Über die Gesten toter Dichter
Behemoth machte eine schnelle katzenartige Geste
und das ganze Zimmer stand in Flammen.
M. Bulgakow, Der Meister und Margarita
1.
In Paris sagte uns ein kluger Aufständischer: "Heute muß man sich zur Kunst so verhalten wie es die Proletarier im neunzehnten Jahrhundert getan haben. Das heißt, man darf sie einfach nicht bemerken."
Ist es möglich, dem nicht zuzustimmen? Kunst, Poesie, Philosophie und Religion, die einst den Völkern ihre historischen Höhepunkte und Abgründe eröffneten, haben sich heute ins Spektakel oder in Privatübungen verwandelt. Früher konnte man auf der Straße auf Dichter und ihre Lieder stoßen wie auf eine Barrikade. Jetzt stößt du bei Lesungen nur auf weihnachtliche Lebkuchen und Essig. Wenn wir das Wort "Spektakel" zur Definition der äußersten Phase des Kapitalismus verwenden, wo alles von sich selbst abgesondert zur Schau gestellt wird, dann ist die gesündeste Einstellung gegenüber der Kunst, sie nicht zu bemerken.
Aber was heißt das eigentlich, sie nicht bemerken? Sie einfach ignorieren, die Augen vor der lauten und allgegenwärtigen Präsenz dieses Normalitäts-Monsters, das jede lebendige Geste in ihr Gegenteil verwandelt, verschließen? Nein. Die Kunst nicht zu bemerken bedeutet den normalisierten Formen, in denen die Kunst jetzt existiert, den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Auf die Kunst spucken. Die Kunst verhöhnen. Sie verspotten. Sich ihr nicht unterwerfen. Aus ihr desertieren. Ihr strategisch und taktisch entgegenwirken. Das eigene Leben zur Kunst machen und dadurch die falsche Vollständigkeit des Werkes verneinen. Die letzte historische Erscheinung, die eine echt gesunde Einstellung zur Kunst hatte war Punk; freilich in seinen äußersten, d.h. plebejischen und intensivsten Erscheinungsformen. Punk war der Versuch, eine poetische Lebensform zu schaffen, im aktiven Widerstand gegen das Spektakel.
Wie der Protagonist eines sehr guten Buches sagt: "Weißt du denn nicht, daß jedes vollkommene Leben das Ende der Kunst wäre?"
Und er führt seinen Gedanken folgendermaßen weiter: "Zieh den Sinn aus allen Dichtungen, und du wirst eine zwar nicht vollständige, aber erfahrungsmäßige und endlose Leugnung in Einzelbeispielen aller gültigen Regeln, Grundsätze und Vorschriften erhalten, auf denen die Gesellschaft ruht, die diese Dichtung liebt!"
Und: "Vollends ein Gedicht mit seinem Geheimnis schneidet ja den Sinn der Welt, wie er an tausenden alltäglichen Worten hängt, mitten durch und macht ihn zu einem davonfliegenden Ballon."
Und so zieht der Protagonist die Bilanz aus seinen Überlegungen: "Schönheit sollte ein unsagbar rücksichtsloser und grausamer Umsturz sein."
2.
Tote Dichter wußten, daß Gedichte alleine nicht ausreichen. Richtiger: sie verstanden, daß die Poesie in Gesten eine Fortsetzung finden muß, in Handlungen, Ausfällen, Gelächter, Anonymitäten, fliegenden Steinen, Schüssen, Küssen und Ohrfeigen. Einst verstanden es Dichter gefährlich zu leben.
Was stellt diese Ohrfeige dar, die Ossip Mandelstam Aleksei Tolstoi gab? Sie ist ein Schlag, der einem Poeta laureatus verabreicht wurde. Mandelstam wußte, daß Poesie nichts mit dem schändlichen Literaturwesen gemein hat. Literaten sind jene, die aus der Hand der Machthaber essen, und die Macht ist - wie Mandelstam sagte - so widerwärtig wie die Hände eines Barbiers. Und er gibt dem Stalin-Romancier eine Watsche.
Catull rief sich einmal selbst zu (als auch dem Caesar, der römischen Menge und Iggy Pop): "Quid est, Catulle? Quid moraris emori?" Dieser Schrei ist etwas anderes als der Dolch des Brutus, aber er ist nicht weniger spitz, nicht weniger erhoben. Und er zielte auf das Herz einer herzlosen Welt.
Wir wissen, daß Achill die Poesie auf der Spitze seines Speers trug.
Heiner Müller schrieb in einem seiner Gedichte, daß er eine Null ist verglichen mit dem Dichter und Dieb Villon, der seinen Kopf nirgends anlehnen konnte. Bei diesen Zeilen von Müller handelt es sich nicht einfach um gewissenhafte Gedichte, sondern um eine schroffe Geste des Sich-selbst-Zurückweisens. Eine treffliche Geste in Richtung Freiheit.
Die russischen Futuristen waren eine tolle Bande von Frechlingen mit bemalten Fratzen, die in einem Kahn die Wolga hinunterfuhren und den müden Leuten am Ufer wilde Worte zuriefen. Ohne diese Geste sind die russischen Futuristen unverständlich.
Die Geste Pessoas: "Frühlingsahnung lag in der Luft. Mit den Piraten ziehen. Den Kulturmenschen-Anzug abstreifen. Fort damit!"
Chlebnikov ist vor dem Tschekisten-Terror in die Steppe geflüchtet – und vor der Literatur, den Säuen, den Trotteln – weil das die Poesie erforderte. Und die Poesie ist gemeinsam mit dem Dichter in die Wüste gegangen, wie zu Medschnuns Zeiten.
Lenz vollführte unermüdlich ungeschickte, ungewöhnliche und entzückende Gesten, die alle Herrschaften mit "guten Manieren" rasend machten, Goethe eingeschlossen.
Arthur Rimbaud, der die Pariser Verseschmiede beleidigt hat, verschwand in Afrika. Das war eine krasse Geste.
Arthur Cravan, der die europäische Kulturelite und überdies alle Avantgarden verspottet hat, verschwand in Mexiko. Verschwinden ist ein schöner und gefährlicher poetischer Akt, von dem Blanqui und Nietzsche entzückt waren.
Aber Wallace Stevens, der stellvertretender Direktor einer Versicherungsanstalt war und seine Poesie als private Angelegenheit betrachtete, war auch ein echter Dichter. Warum? Nicht nur deshalb, weil – wie Tolstoj sagte – ein Widerspruch zwischen dem inneren und äußeren Leben eines Menschen ein sicheres Zeichen von Wahrheit ist. Sondern auch deshalb, weil Wallace Stevens wußte, daß Poesie ein Verbrechen gegen die Versicherungsgesellschaft ist. Und es bereitete ihm ein Vergnügen, dieses Verbrechen zu begehen.
Antonin Artaud entwarf eine klare und genaue "Hieroglyphe" der poetischen Geste. Er sagte, daß ein Künstler jenen Häretikern ähneln soll, die am Scheiterhaufen verbrannt wurden, und die, selbst am Pfahl festgebunden, fortfuhren, der Menge Zeichen zu geben. Man kann sich diese Zeichen folgendermaßen vorstellen: Körperbewegungen, Grimassen, Töne, Zuzwinkern, Pfeifen, Flüstern, eine herausgestreckte Zunge ... Poetische Gesten sind verschiedenartig; sie sind zärtlich, ungestüm, anmutig, wild, elegant, ungeschickt, stürmisch, zurückhaltend ... Doch sie zielen unbedingt alle darauf ab, den zivilisierten, normalisierten, gewöhnlichen, banalen und von der Macht durchdrungenen Fluß der Tage und Dinge zu unterbrechen. Die Geste eines Poeten oder einer Poetin zerreißt die Decke, offenbart den Riss im Stoff namens "Gesellschaft", entblößt unter dieser Decke Körper, Haare, Wunden, Himmel, Erde, Feuer. Dichter ist, wer mit seinen Worten und Gesten die Wand zerstört, die das Paradies von der Hölle trennt. Dichter ist, wer über verbrecherische, unanständige, unlenkbare und gefährliche Gesten verfügt. Mit dem Spektakel den Kampf aufnehmen bedeutet heute, Verbrecher und Rebell gegen die totale Normalisierung zu sein, gegen das weltweite Kleinbürgertum, der feigsten und folgsamsten Menschheit, die es je gab. Und da, nach den Worten eines Philosophen, die ganze Welt ein Museum ist, in dem nichts benützt werden kann, steckt in der Geste der Weigerung, im Widerstand gegen das Museum, in seiner Profanierung und im Aufstand gegen es echte Poesie. Nur dort ist ein poetisches Ereignis zu entdecken.
Man muß sich ständig an die Gesten toter Dichter erinnern, man muß diese Gesten im heutigen Kampf gebrauchen; es ist nötig, diese Gesten auf lächerliche und begeisterte Weise nachzuahmen, so wie Don Quijote Rittergesten nachahmte, wie Fürst Myschkin die Vase im Haus des Generals zerschlug, wie die Situationisten die Suppenschüssel in Lefebvres Wohnzimmer auf den Boden warfen, wie ein Revolutionär lachend vom jakobinischen Schafott "Es lebe der König!" rief. Als echte Nachfolger der toten Dichter und ihrer Eröffnungen erweißen sich jene, die heute Autos in den nächtlichen Vorstädten anzünden, die Auslagen von Wahllokalen zerschlagen, die mit einem Hammer die Vitrinen einer Bank bearbeiten. Mit einem Wort: die das Spektakel und die Wirtschaft angreifen, die Biomacht und die Polizeiordnung, die "auf den Köpfen von Königen tanzen". Wir wissen, daß die Macht zuerst die Gemeinschaft freier Geschöpfe zerstört hat und jetzt versucht, endgültig die Einbildungskraft zu zerstören, die sich so eine Gemeinschaft vorstellen kann. Die Gedichte und Gesten toter Dichter sind Widerstandstechniken und Waffen im Kampf gegen diese Zerstörung.
Es ist unmöglich, die Gedichte toter Dichter zu verstehen, ohne eine Vorstellung von einschneidenden Gesten zu haben. Diese Gesten sind eine Fortsetzung und oftmals sogar eine Vollendung der Poesie.
3.
Mit anderen Worten: heute ist die Bejahung des poetischen Status des Menschen auf Erden nötig. Man kann es auch so sagen: es ist notwendig, vom "Menschen" wegzugehen, der völlig auf seinen poetischen Status vergessen hat. Zu den Piraten gehen, den Tieren, der lebendigen Poesie. Nach "Indien des Geistes", d. h. in die attackierende Phantasie, den Aufstand, den Ungehorsam, den Bürgerkrieg gegen die Dummheit. Dabei kannst du Gedichte schreiben, aber du kannst auch keine schreiben. Offensichtlich ist jedoch eines: die Bejahung unseres poetischen Status auf Erden hat jedenfalls nichts gemein mit einer normalen literarischen Tätigkeit, mit dem widerlichen Beruf des Literators, mit der Zugehörigkeit zur kläglichen Kaste der Satzzeichen-Händler.
Was vereinigt Dichter mit Verseschmieden? Das gleiche, was einen Elefanten und Bernard Show vereinigt: sie haben beide einen Bart, ausgenommen der Elefant.
Alexander Brener, Barbara Schurz